Jochem Hendricks

Der Fetisch, 2002
Klaus Görner

Text für den Katalog „Legal Crimes“, Kunstverein Freiburg, 2002 / Klaus Görner ist Kurator am Museum für Moderne Kunst Frankfurt

Die rechte Hand Richard Wagners in Bronze gegossen, patiniert und auf einen flachen Sockel montiert. Es ist die Hand, die zum ersten Mal den Tristan-Akkord erklingen ließ und die den ‚Ring des Nibelungen’ schuf – die Hand des Meisters, die fruchtbare Hand.

Was veranlasste das 19. Jahrhundert dazu, ein derartiges Objekt zu schaffen und um was handelt es sich dabei? Es ist ein Bekenntnis zum Meister und zweifellos auch ein Gegenstand der Verehrung, eine Devotionalie, die dem echten Wagnerianer heilige Schauer über den Rücken laufen lässt. Aber es ist doch noch etwas mehr, es ist ein Fetisch. Versuchsweise als solchen betrachtet wird deutlich, dass die abgegossene Hand in sich etwas von der Kraft zu sammeln vermag, die wir verehren und bewundern. Man versichert sich dieser Kraft und bemächtigt sich ihrer zugleich in diesem künstlichen Körperfragment. Als gemachtes Objekt – und darin von der Reliquie unterschieden – beschwört es die schöpferische Potenz, die sich in der Person Richard Wagners beispielhaft äußerte. Auf dem Klavier oder dem Buffet liegend, dürfen wir hoffen, durch den Fetisch an der Potenz in Verehrung zu partizipieren, die Hand gleichsam zum Segen zu zwingen, sie in eine befruchtende Hand zu wandeln.

Von dieser Tradition scheint mir die Arbeit Gehirn des Künstlers von Jochem Hendricks nicht unberührt. Durch ein analoges Verfahren gelangte er zu einem ‚Abguss’ seines eigenen Gehirns. Matt leuchtend ruht es nun unter einem Glassturz und entfaltet dort den ganzen Zauber eines Fetischs. Wie die Hand Wagners ist es ein ‚Abguss’ eines lebenden Körperfragments, jedoch eines unsichtbaren. Zu Lebzeiten Wagners war es möglich und wurde vielleicht auch getan, die lebendige Hand neben den Abguss zu halten. Die beiden Gehirne können erst nach einer Autopsie verglichen werden. Der Beweis ihrer Identität kann also erst nach dem Ableben des Künstlers angetreten werden. Was zunächst als Differenz bemerkt werden muss, ist die Verschiebung von der Sichtbarkeit in die Unsichtbarkeit. Das hat seine Konsequenzen für das ‚Abgussverfahren’. Ist die Hand in einem analogen Verfahren entstanden, geht der Weg zum Gehirn über einen digitalen Datensatz, der in ein plastisches Gebilde konvertiert werden kann.

Dieser Verschiebung entspricht eine Verlagerung von der Hand zum Hirn. Die Tätigkeit oder Wirkung der Hand liegt in der Sichtbarkeit des Machens, sie formt im Material. Die Tätigkeit oder Wirkung des Gehirns liegt aber im Nichtsichtbaren. Nur in der Vermittlung kann auf die Arbeit des Gehirns zurück geschlossen werden, sie äußert sich nur mittelbar. Auf dem (historischen) Weg von der Hand zum Gehirn ist auf eine sinnfällige Weise auch eine Verschiebung in der Kunst festgehalten. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts verlagerte sich der Sitz künstlerischer Kräfte von Herz und Hand in das Gehirn. Dieser ‚Umzug’ geht einher mit einer Verschiebung der Aufmerksamkeit von der Seele oder dem Gemüt hin zur Psyche. Der neue Fetisch ist das Gehirn, in ihm lokalisiert sich nun die schöpferische Potenz des Künstlers. Und nicht nur die des Künstlers. Am Beispiel des Gehirns von Albert Einstein lässt sich zeigen, wie sich der neue Fetisch des Genialen geriert. In der Mythologie des Alltags und in der Forschung hat es einen besonderen Stellenwert eingenommen. Die Fragen von Begabung und Genialität werden nicht mehr an den Kräften des Herzens und des Gemüts gemessen sondern im Falle Einsteins an der Größe der Parietallappen und an einer darin fehlenden Furche (Sulcus). Kreativität oder gar Genialität wird zu einem messbaren Sachverhalt, der sich am Gehirn selbst nachweisen lassen soll. Wurden im vorvergangenen Jahrhundert noch liebevoll die Hände der Künstler abgegossen, so stellt uns heute der Künstler eine genaue Kopie seines Gehirns zur Verfügung. Das neue Zentralorgan unserer Zeit ist das Gehirn.

Mit der Arbeit Gehirn des Künstlers stehen die Augenzeichnungen in einer engen Verbindung. Sie verdeutlichen überzeugend die beschriebene Veränderung. „Augenzeichnungen sind direkt mit den Augen ausgeführte Zeichnungen ohne jeden Eingriff der Hände – das Wahrnehmungsorgan wird gleichzeitig zum Ausdrucksinstrument.“ Die Beschreibung, die Jochem Hendricks zu seinen Augenzeichnung gibt, ist so nüchtern wie der Vorgang selbst. In einem Labor der Technischen Universität Berlin konnte Hendricks ein Gerät benutzen, das über Infrarot-Strahlen die Bewegung der Augen verfolgt, sie mittels Videotechnik aufzeichnet und an einen Computer weiterleitet, der die einzelnen Fixationspunkte der Augen digitalisiert. Diese Punkte werden durch Geraden verbunden und schliesslich mit einem Tuscheplotter auf ein Blatt gezeichnet.

Seit jeher gilt in den graphischen Künsten die Zeichnung als unmittelbarer Ausdruck, als ein erster, nahezu unverstellter Niederschlag der künstlerischen Idee. Alle weiteren Ausarbeitungen führen durch die Tätigkeit der Hand und das Material immer weiter von dieser Idee weg. Die Idee als Kern und Ziel der Kunst kann als ein roter Faden beschrieben werden, der die Kunst des Abendlandes durchzieht. Die Idee so rein und unverfälscht als möglich in die Sichtbarkeit gelangen zu lassen, erscheint dann als eine Kardinalfrage aller künstlerischen Bemühungen. So könnte man in den Augenzeichnungen eine weitere Abkürzung erkennen, die dem Ideal der Unmittelbarkeit näher rückt.

Aber die übersprungene Hand allein liefert noch keinen Abdruck der Idee. Die Hand als Ausdrucksorgan ist zwar ausgeschaltet und die Augen –Ausstülpungen des Gehirns – zeichnen nun als Wahrnehmungsorgan selbst, aber die dazwischen geschaltete Maschinerie setzt dennoch einen Abstand. Sie wandelt das Unsichtbare um zum Sichtbaren und verschiebt damit das Problem. Insofern ist das Gehirn wieder nur ein Fetisch, der in quasi-magischen Versuchen erneut sich um eine Bemächtigung des Ideals bemüht. Die Differenz des Sichtbaren und des Unsichtbaren und damit die zwischen dem Subjektiven und dem Intersubjektiven bleibt davon unberührt und der Generalverdacht gegen die Kunst, lediglich schattenhafte Abdrücke der Idee zu produzieren, unser platonisches Erbe, bleibt unausgeräumt. Der Erkenntnisgewinn durch die Arbeiten von Jochem Hendricks liegt deshalb nicht in der Erfüllung eines alten Traums, sondern in seinem gesteuerten Scheitern.