Jochem Hendricks

Die Nebendarsteller und Hauptakteure in der Entourage von Jochem Hendricks, 2012
Stephen Foster

Text für den Katalog Jochem Hendricks, Distanz Verlag, 2012 / Stephen Foster war bis 2017 Direktor der John Hansard Gallery, Southampton

Vor einigen Jahren ging der Künstler Jochem Hendricks eines Tages in den baufälligen Gebäuden in der Nachbarschaft seines Ateliers in Frankfurt auf Erkundungstour. Wie es bei derartigen Unternehmungen manchmal passiert, stiess er dabei auf eine alte Truhe. Er öffnete sie vorsichtig und fand zu seinem Erstaunen ein Archiv von Polizeifotos aus den 1970er Jahren vor. Es waren vor allem Film- und Fotonegative, doch er erkannte schnell, dass es sich um Bilder von terroristischen Anschlägen, Banküberfällen und Demonstrationen handelte. Eine wahre Fundgrube. Was sollte er jedoch mit dieser aussergewöhnlichen Beute anfangen?

Ein paar Jahre später begegnete er Magdalena Kopp, einem Mitglied der Revolutionären Zellen in den 1970ern und Exfrau von Carlos (Ilich Ramírez Sánchez), dem international agierenden Terroristen, der 1997 wegen einer Reihe von Verbrechen in den 1970er und 80er Jahren zu einer doppelten lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt worden war. Magdalena war bereits als junge Frau eine exzellente Fotografin, gab diese Tätigkeit jedoch für das Leben mit Carlos auf. Wohl aber hoffte sie, sich eines Tages wieder der Fotografie widmen zu können, denn während ihres unsteten Lebens führte sie immer ein riesiges und nicht genutztes Vergrösserungsgerät mit sich. Sie hatte über dreissig Jahre nicht mehr in einer Dunkelkammer gearbeitet, Hendricks regte jedoch sofort ein Treffen an, um gemeinsam diese Bilder auf Archivpapier abzuziehen. Er richtete ein Labor ein, in dem Magdalena arbeiten konnte, und entlohnt sie mittlerweile als Mitarbeiterin. Zusammen haben sie die Serie Crime–Terror–Riots entwickelt, wobei die Kosten für das Projekt durch den Verkauf der Arbeiten gedeckt werden. Das Projekt wird fortgeführt, solange es interessierte Käufer gibt. 

Es gibt viele interessante Aspekte an dieser faszinierenden Geschichte, der entscheidende Punkt ist aber wohl, dass die Hand des Künstlers Hendricks bei der Herstellung dieser Arbeit keine Rolle gespielt hat. Das Originalfotomaterial wurde von einer Gruppe unbekannter Polizeifotografen über einen bestimmten Zeitraum in den 1970er und 80er Jahren aufgenommen. Selbst die Entscheidung, welche Bilder abgezogen werden, trifft Hendricks nicht im Alleingang, sondern gemeinsam mit Kopp, die gewissermassen die kreative Koproduzentin des Projekts ist. Dennoch erhebt er den Anspruch, dass diese künstlerischen Arbeiten sein – und nur sein Werk sind, da er die Idee entwickelt und die Umsetzung beaufsichtigt hat. Wann immer möglich, hebt er seine Mitarbeiter würdigend hervor und zahlt ihnen überdies das gängige Honorar für die speziellen Leistungen, die sie anbieten, aber er allein bleibt der Künstler.

In einem ähnlichen Unterfangen und zeitgleich zur Produktion von Crime–Terror–Riots beginnt der Künstler nach Künstlern Ausschau zu halten, die Bilder für ihn malen würden. Da er sich sehr für die Prinzipien von Wert und Weltwirtschaft im Allgemeinen und insbesondere in der Kunst interessiert, sucht er auf internationaler Ebene nach Künstlern, die seine Bilder malen, da er der Auffassung ist, dass sie von verschiedenen Kontinenten kommen sollten. Er startet seine Suche im Internet, jedoch ohne Erfolg. Welche Länder soll er wählen? Nach welcher Art von Künstler soll er suchen? Googeln nach dem Zufallsprinzip würde zu viel Information produzieren. Wie liesse sich überhaupt feststellen, ob die Künstler seinen Anweisungen auf kompetente Weise folgen können? Obwohl er mit dieser Methode möglicherweise einige ausserordentlich gute Künstler finden könnte, würde dies wahrscheinlich Unsummen kosten. Also entscheidet er sich für die Methode einer peniblen Recherche, auf der so viele seiner Projekte beruhen, und beginnt Künstlerfreunde und Bekannte aus der ganzen Welt zu kontaktieren. Dies führt zu einer Kettenreaktion, die ihn seinem Ziel immer näher bringt. Schliesslich fällt die Wahl auf drei Maler von drei verschiedenen Kontinenten. 

Massgeblich für seine Auswahl war der Aspekt, dass er drei sehr unterschiedliche Maler finden wollte, die beim gleichen Bildmotiv dennoch sehr verschiedene Bilder malen würden. Sie mussten in der Lage sein, Hendricks’ Anweisungen zu folgen und für ein Honorar arbeiten, das dem Budget des Künstlers entsprach. Er wählt schliesslich einen Künstler aus Australien, einen aus Asien und eine Künstlerin aus den USA aus. Der Erste ist ein sehr geradliniger technischer Maler, sehr kompetent aber etwas fantasielos. Den Zweiten beschreibt Hendricks als ausgesprochen «feinen» Maler, dessen Verständnis für den konzeptuellen Charakter des Projekts wesentlich ist. Die Dritte schliesslich ist eine Künstlerin, die auf sehr traditionelle Weise malt, im Stil der Alten Meister. Hendricks gibt ihnen allen das gleiche Bild als Vorlage, das sie auf eine Leinwand gleicher Grösse malen sollen. Er wird jedoch mit jedem einzeln das Verfahren der jeweiligen Bildproduktion besprechen. Auf diese Weise nimmt das Projekt Intercontinental Paintings seinen Anfang.

Die interkontinentale Ausrichtung des Projekts führt er fort, indem er das benötigte Bauholz aus dem westlichen Zentralafrika zu beziehen versucht; hier greift er auf bereits bestehende Kontakte zurück. Gemeinsam findet man einen Schreiner aus Kamerun, der das Holz beschafft, es trocknet, zurechtsägt und formt, bevor es schliesslich nach Frankfurt ausgeführt wird. Dort angekommen, werden Rahmen und Bild von einem anderen Schreiner zusammengesetzt und die Arbeiten somit vervollständigt.

Wie viele Projekte von Hendricks beschäftigt sich auch dieses mit Aspekten der globalen Wirtschaft. Der weltweite Handel ist natürlich uralt, aber der Hauptgrund für den zunehmend globalen Handel ist die Einsparung von Kosten, da der Wert menschlicher Arbeit in den ärmsten Teilen der Welt hinter den Materialkosten zurücktritt und die Transportkosten einen immer kleineren Anteil in den Gesamtbudgets ausmachen. In dieser Formel wird einiges von Grössenvorteilen bestimmt. Die Produktion findet im Allgemeinen dort statt, wo die Lohnkosten niedrig sind, und das drückt weltweit die Preise. Die Transportkosten sind gewöhnlich unwesentlich im Vergleich zu den Lohnkosten, und Billigimporte überschwemmen die Märkte im Westen. Hendricks hat dieses Prinzip auf den Kopf gestellt, die Produktion dieser Arbeiten wird unerschwinglich sein, obwohl er den günstigsten Deal ausfindig gemacht hat. Es ist ausserordentlich teuer, jede einzelne Leinwand gerollt und verpackt einzuführen, auch hat er einiges über die Ökonomie internationaler Luftfracht gelernt. Seine ursprüngliche Vorstellung, dass ein Kollege oder Freund das Paket an Bord eines Flugzeuges mitbringen könne, entpuppte sich als wesentlich teurer als der Versand des Pakets oder gar sein Transport im Frachtraum eines Flugzeugs. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass Hendricks ein echter Anfänger ist, wenn man bedenkt, was er sich alles neu aneignen muss, aber selbst darin steckt eine Botschaft. In jeder Phase lernt er bestimmte Dinge so, als würde er alles von Grund auf neu erfinden. Mit einem leeren Blatt Papier beginnend. Schliesslich erfährt er, dass die Produktion und der Versand jedes Bildes nach Frankfurt Tausende von Dollars kosten würden und die Produktion insgesamt höchst unökonomisch wäre. Dennoch macht er weiter. Hendricks zahlt ein vereinbartes ähnliches Honorar an die Künstler für die Arbeit, die sie geleistet haben, deren Wert von Land zu Land natürlich variieren kann. Er erhöht seine Zahlungen an jeden Künstler, sobald die Bilder verkauft sind. 

Auf diese Weise vergrössert Hendricks seine Entourage von Mitarbeitern. Es ist eine Besetzung von, wenn nicht Tausenden, so doch sicherlich einer sehr grossen Anzahl von Partnern, die er im Lauf der Zeit eingebunden hat. Einige werden einmalig für eine bestimmte und sehr spezielle Arbeitsleistung bezahlt und andere werden im Rahmen von Folgeprojekten für längere Zeit auf die ständig umfangreicher werdende Gehaltsliste gesetzt. Manche sind Einheimische, mit denen der Künstler häufig zusammenarbeitet, wiederum andere kommen von sehr weit her und werden nur einmalig in Anspruch genommen. Einige verlangen sehr hohe Honorare, da sie über ein aussergewöhnliches und hoch geschätztes Können verfügen, andere kommen aus Ländern mit einer derartig schwachen Wirtschaft, dass ihre Honorare für westliche Verhältnisse sehr gering erscheinen. Manche werden als Mitarbeiter bezeichnet, andere bleiben anonym. Und einige – unter ihnen auch der Steuerberater von Hendricks – erhalten anstelle eines Geldbetrages ein Kunstwerk jährlich.

Immer wieder arbeitet Hendricks mit Freunden und Kollegen, die bestimmte spezielle Fähigkeiten haben, und mitunter begibt er sich auch an schwierige oder sogar gefährliche Orte. Seine Entourage ist ein bunt zusammengewürfelter Haufen; eine Truppe von allen nur erdenklichen Akteuren. Dazu gehören der zwielichtige Mittelsmann, der in Osteuropa Körperteile aufgetrieben und der Mann von einem Forschungsinstitut in Kiew, der daraus unter ähnlich fragwürdigen Umständen synthetische Diamanten hergestellt hat. Oder auch Ulrich Lang, der leitende Konservator am Museum für Moderne Kunst in Frankfurt, der den Avatar vergoldet hat, sowie all die Menschen, die in seine Ausstattung involviert sein werden. 

Dann gibt es diejenigen, die Steine an die Fenster geworfen und die, die Sandkörner gezählt haben. Oder die Philippinin Annelie Ataccdor Alingasa, die ihre Haare verkaufte und das Team von Frauen aus Kamerun, die diese an den Enden zusammenklebten. Da gibt es den Taxidermisten und den Schmied oder den Mann, der sein Ohr verloren und den, der sein Bein verloren hat – und da sind noch viele, viele mehr. 

Hendricks’ Methode scheint eklektisch zu sein, ohne eine übergreifende «Bildsprache» oder einen «Stil», der eine solche disparate Ansammlung von Arbeiten verbinden würde. Er betont jedoch, dass ihn die Dinge, die ihn interessieren, antreiben, und er interessiert sich praktisch für alles! Zudem beginnt er bei jedem Projekt wieder ganz von vorne und entwickelt jedes Mal neue Vorgehensweisen. Es scheint, als konzipiere er Projekte mit der Absicht, die Welt und ihre Funktionsweise zu verstehen, und seine Arbeiten sind das Ergebnis dieser Aktivität. Sein Interesse an der Globalisierung der Arbeit, an der Weltwirtschaft und dem Kunstmarkt taucht als Thema immer wieder auf. Er interessiert sich aber auch für den Aspekt des Wertes, insbesondere den relativen Wert menschlicher Arbeit. 

Manchmal ist Hendricks äusserst provokant und fordert unsere Vorstellung dessen heraus, was als akzeptables Benehmen gilt. Hendricks weiss, dass der Staat niemals ästhetische Urteile darüber fällen wird, was ein Kunstwerk ausmacht, daher investiert er auf Anraten seines Steuerberaters alle Gewinne aus seinen jährlichen Aktivitäten in die Produktion neuer Arbeiten. Bei anderen Gelegenheiten begibt er sich in eher finstere Welten, hier braucht er mitunter auch einen Bodyguard oder Mittelsmänner, die in seinem Auftrag Materialien beschaffen oder dubiose Deals einfädeln, die im Westen illegal oder äusserst schwierig zu bewerkstelligen wären. Unabhängig vom Kontext ist er bereit, die im jeweiligen Land gängigen Honorare zu zahlen. Manche sind extrem hoch, andere wiederum verboten niedrig.

Im Mittelpunkt all dessen stehen natürlich Themen wie Ethik, Ehrlichkeit und Vertrauen. Für uns ist es ein bisschen, als würden wir einem Zauberer zuschauen wollen, nur um dann das Spiel eines Trickbetrügers mit drei Bechern und einem Ball zu verfolgen. Wir konzentrieren uns so stark auf den Ball, dass uns der eigentliche Zauber entgeht, der irgendwo anders stattfindet. Das ist ziemlich schlau von dir Jochem Hendricks, uns immer wieder an der Nase herumzuführen. Und während du versuchst, wertneutral zu sein, zeigst du bei manchen Gelegenheiten eine zutiefst moralische Haltung – und bei anderen wiederum scheint diese ethische Dimension völlig beliebig, diffus oder im positiven Sinne verkehrt zu sein. So wie die Welt an sich, die du in deinem Kopf zu umschiffen versuchst. Letztlich sind es nur die eigenen Werte, die du auf deinem Weg durch die Welt findest, und entgegen unserer Annahme gibt es eben kein allgemeingültiges Buch der Regeln. 

Was an allen Arbeiten von Hendricks so bestechend ist, ist diese jeweils hoch spannende Geschichte, die das Publikum völlig in den Bann zieht. Das visuelle Erscheinungsbild der Arbeit dient als Bestätigung des Erzählten. Das Geschichtenerzählen ist seit Anbeginn der menschlichen Zivilisation eine wesentliche Komponente der menschlichen Verständigung; vielleicht ist es sogar der entscheidende Aspekt von Kultur an sich. Derlei Geschichten erschaffen ein kollektives Unbewusstsein, das Teil der transgenerativen Überlieferung von Erfahrung ist. Jede Kultur hat ihre eigenen Geschichtenerzähler, die Ereignisse nacherzählen, die unser Erleben lebendiger, unvergesslicher und realer machen. In den Frühkulturen wurden Geschichten mündlich und aus der Erinnerung weitergegeben. Die Hinzufügung von visuellen Elementen dient lediglich der Unterstützung des Erzählten an sich. Die Tätowierungen uransässiger Geschichtenerzähler dienten zum Beispiel als auf den Körper gezeichnete Gedächtnisstütze für das zu Erzählende. Später wurde es durch das geschriebene Wort überliefert – und in jüngster Zeit durch Film und Fernsehen. Fabeln und Mythen sind nicht die einzige Form des Geschichtenerzählens, sie haben sich jedoch bis heute in unterschiedlichster Form bewahrt. Politische Ideen und faktische Informationen sind wirkungsvoller und leichter zu erinnern, wenn sie im Kontext einer Geschichte präsentiert werden. Kein Kandidat eines Reality-Gesangswettbewerbes im Fernsehen kann auf die Bühne gehen, ohne dass zuvor eine einnehmende Geschichte über ihn (oder von ihm) erzählt wird, die uns davon überzeugen soll ihn zu wählen,
bevor wir überhaupt seine Stimme gehört haben.

Hendricks ist sich dessen bewusst und weiss, dass die Geschichte, die die Arbeit unterstützt, dem Objekt selbst jene Kraft verleiht, dank der es ein wahrhaftig denkwürdiges und starkes Bild werden kann. Im Falle von Horizontal Hairdo ist das vierzig Kilometer lange Ergebnis im Prinzip eine sinnlose Geste; aber im Licht der Frage, was der Wert eines Menschen ist und was menschliche Arbeit ausmacht, ist sie bedeutungsvoll. Entscheidend ist jedoch, dass die Geschichte hinter dem Bild eine transzendentale Kraft entwickelt. Sie hilft dabei, das Kunstwerk in den Status eines mythischen Bildes zu erheben, das in den Hinterköpfen des rezipierenden Publikums verhaftet bleibt. Genau das passiert mit jedem wirklich guten Kunstwerk.