Jochem Hendricks

Hendricks und Veronika, 2001
Eva Linhart

Text für den Katalog „Legal Crimes“, Kunstverein Freiburg, 2002 / Eva Linhart ist Kuratorin am Museum für Angewandte Kunst, Frankfurt

Jochem Hendricks Augenzeichnungen führen uns ohne Umschweife dahin, wo wir den organischen Ausgangspunkt bildender Kunst vermuten: zu den Augen und ihrer Tätigkeit, dem Sehen. Dabei erscheint dieses Sinnesorgan nicht etwa als ein Darstellungsobjekt. Statt dessen ist es als der tatsächliche Beweggrund der Zeichnungen wirksam, und das in doppeltem Sinn. Zum Einen sind die Augen als Instrument des wahrnehmenden Sehens eingesetzt. Das, was der Künstler sieht, erscheint mittels der Zeichnung als ein mehr oder weniger deutlich Wiedererkennbares; sei es eine Hand, ein Gesicht oder die Layoutstruktur einer Tageszeitung. Zum Anderen ist es die Bewegung der Augen und somit der Vorgang des Sehens, der die Linien der Zeichnungen diktiert. Durch eine helmartigen Brille, die der Künstler aufsetzt und die Infrarot-, Video- und Computertechnik verbindet, werden die Bewegungen seiner Augen aufgenommen und in gleichmäßig starke Linien übersetzt.

Veronika ist keine historisch bestimmbare Gestalt. Das Bild dieser Heiligen ist vielmehr nach der mittelalterlichen Legende entstanden. Sie soll jene Frau gewesen sein, die von Christus vom Blutfluß geheilt wurde und die auf ihre Bitte hin das wahre Bild seines Antlitzes von ihm erhalten habe.

Wahrheit und Methode

Jochem Hendricks zeichnet also mit den Augen. Er zeichnet das, was zu sehen und – der Logik der Methode nach – auch abzubilden er sich vorgenommen hat. Indem der Künstler sehen und zeichnen zu Synonyma werden läßt, fordert er heraus, ihn mit der Frage zu konfrontieren, ob er das altehrwürdige Thema von der Wahrheit des Bildes wiederzubeleben sucht. Der Verzicht auf den vermittelnden Dienst einer Hand war seit ehedem das stärkste Argument jener, die vor vielen Jahrhunderten die Objektivität des Bildes als Abbild zu begründen begonnen haben.

Um 1400 wird die Legende der Veronika mit der Passion Christi in Verbindung gebracht. Sie soll sich unter jenen Frauen befunden haben, die Christus auf seinem Kreuzweg trifft und anspricht (Lukas 23,27 – 31). Sie reicht ihm ein Tuch, damit er den blutigen Schweiß auf seinem Gesicht trocknen kann. Als er das Tuch wieder zurückgibt, erhält es den Abdruck seiner Gesichtszüge. Es ist als „Schweißtuch der Veronika“ in die Kunstgeschichte eingegangen ist. Der Name Veronika leitet sich übrigens vom Lateinischen vera icon, das wahre Bild, ab.

Kalkül und Zufall

Das, woran sich die sehzeichnerische Tätigkeit der Augenzeichnungen abarbeitet, sind zuvor vom Künstler ausgewählte und bestimmte Gegenstände oder Sachverhalte wie der Schreibtisch, die Rechnung, das Dunkel oder das Blinzeln. Um entlang ihrer Erscheinung das Zeichnen mit den Augen zum Vollzug zu bringen, bleibt das Beobachtete ganz auf sich beschränkt und wird auch als vom jeglichen Kontext losgelöst wiedergegeben. Dem Zeichnen geht folglich ein Begriff von dem Beobachteten voraus, oder anders gesagt: Die Augenzeichnungen thematisieren das Sehen entlang des wiedererkennenden Sehens. In dem Maße jedoch, wie nicht das Beobachtete sondern die Beobachtung das Interesse dieser Zeichnungen ausmacht, rückt der Sehvorgang selbst in den Mittelpunkt. Und hier wird es spannend. Denn nun beginnt die Reise ins Ungewisse und das verschafft den Augenzeichnungen ihren eigentlichen Reiz. So klar dem Künstler die zu betrachtenden Sachverhalte auch sein mögen, so wenig weiß er im Vorfeld, wie er sie sehen bzw. zeichnen wird. Den Ausgang hierbei hat er jedenfalls nicht im Griff, und so will er es auch haben.

Die Legende der Veronika ist unter anderem auch dann bemerkenswert, wenn man den Beweggrund, der zum Bildnis geführt hat, mit der Bedeutung des Resultats, nämlich ein wahres Bild erhalten zu haben, aufeinander bezieht. Denn Veronikas Impuls war keineswegs von der Absicht bedingt, so jedenfalls die Argumentation, ein Bildnis Christi herzustellen. Nicht als eine Künstlerin ist sie an die Sache herangegangen. Ihr Impuls rührt ganz wo anders her: vom Einfühlen in die unangenehme Lage, in der sich der göttliche Mitmensch Christus befunden hat. Aus reiner Hilfsbereitschaft reicht sie ihm das Tuch. Daß dieses sein Blut aufsaugt und so sein Gesicht wiedergibt muß also aus ihrer Sicht reiner Zufall gewesen sein.

Kontrolle und Überraschung

Während Jochem Hendricks Augen zeichnen, sehen sie nicht, wie oder was sie gezeichnet haben. Diese Diskontinuität wird von dem Umstand noch gesteigert, daß zwischen Sehzeichnen und der ersten Betrachtung des Resultats Zeit vergeht Früher waren es etwa zwei Wochen, heute geht es schneller. Es dauert jedenfalls, bis die Daten umgerechnet und auf einem Datenträger gespeichert den Künstler erreichen. Warum aber setzt sich Jochem Hendricks solchen Umwegen und Beschränkungen aus? Warum dieses Hinauszögern? Und wie gehen diese distanzierenden Maßnahmen mit der Direktheit, die nun mal dem Sehvorgang eigen ist, zusammen?

Das Verfahren, das laut der Legende zum wahren Bildnis Christi geführt hat, kann man sich gar nicht plastisch genug vorstellen. Das Tuch als weißer rechteckiger Stoff kann sich wegen seiner Flexibilität an das Gesicht Christi anschmiegen. Vorübergehend nimmt es die Eigenschaft einer Maske an. Wieder entspannt, zeigt es die Gesichtszüge des Leidenden. Die Linien des Gesichtsabdrucks sind sein Blut, welches hier zur bildbildenden Substanz, zur Farbe, wird. Aus dem Tuch wird auf diese Weise eine Leinwand. Wie sehr mag Veronika von dem Resultat und der Konsequenz ihres Handelns überrascht gewesen sein?

Indem Jochem Hendricks systematisch die eigenen künstlerischen Steuerungsmöglichkeiten ausschließt, wird deutlich, daß dem Künstler an einer unmanipulierten Wiedergabe des Sehens gelegen ist. Der damit einhergehende Wahrheitsanspruch, die Authentizität des Sehvorgangs als objektive Tatsache ist dabei an die Technologie und ihr Versprechen der exakten Erfassung abgegeben. Der Einsatz computerisierten Know-hows und wissenschaftlicher Systematik wird so zum Garanten für die Richtigkeit der Ergebnisse.

Das ganze wäre aber nur halb so spektakulär, wenn man den technischen Aufwand nicht in Bezug zum Resultat setzen würde, nämlich zum Bildprodukt, bzw. zu der Tatsache, daß damit Bilder entstehen sollen, die vorher nicht absehbar sind. Das betrachtete Objekt wird durch die bildwerdende Betrachtung, das Sehzeichnen, neuartig und das wiedererkennende Sehen vom sehenden Sehen überholt. Oder anders formuliert: der Gegenstandsbezug wird durch das Liniengestrüpp auf eine abstrahierende, sich auf das vielfältige Formenspiel der Zeichnung einlassende Sehart überstiegen.

Creator und Creation

Bei der wunderbaren Bildentstehung spielt das Sehen keine unmittelbare Rolle. Unabhängig vom Entscheidungswillen Veronikas ist das Bild passiert. Obwohl Hände mit im Spiel sind, sind sie keine Werkzeuge eines bildschaffenden und schon gar nicht sich am komponierenden Sehen orientierenden Willens: Veronika reicht das Tuch, Christus legt es auf sein Gesicht. Dann verselbständigt sich das Ganze. Das Tuch wird vom Blut durchtränkt, das Blut fließt entlang des Gesichts. Und erst nachdem das Tuch aus dem Zustand der Gesichtsmodellierung entlassen ist, erst dann kommt das Sehen wieder zum Einsatz: Als Gewahrwerden, daß da so ganz nebenbei ein visuell taugliches Dokument entstanden ist. Ist hier Veronika das Werkzeug göttlicher Vorsehung, um uns ein gesichertes Zeugnis und das trotz des biblischen Gebots, uns kein Bild vom Gott zu machen, zu hinterlassen? Und wer ist hier der eigentliche Schöpfer und wer das Geschöpf?

Jochem Hendricks will sich mit und von dem Unvorhersehbaren der Augenzeichnungen überraschen lassen. Dabei setzt er das Sehen im Sinne eines kalkulierten Zufalls ein. Das daraus sich ergebende, stets neuformierende Linienphänomen wird zum Beleg für seine schöpferische Dynamik. Das Sehen im Rahmen der Augenzeichnungen gewinnt demnach den Stellenwert einer Kapazität, die dem Künstler eigen ist, aber zugleich bisher verborgen war. Auf diese Weise katapultiert sich Jochem Hendricks in eine Position, die ihm das Entdecken seiner selbst ermöglicht. Der Künstler und sein Sehen werden ihm zum Objekt. Einem unentdeckten Land gleich vermag er sich selbst immer wieder aufs Neue von dem eigenen originellen Potential überraschen zu lassen. Indem er die eigene Unermeßlichkeit erfährt, übersteigt er sich bzw. das, was er vorher war. Er erschafft sich als schöpferischer Mensch immer wieder neu, wobei ihm das systematische Ausschließen des eigenen Eingreifens die Authentizität sowie Ursprünglichkeit des bisher so noch nicht Gesehenen sichert. Blut muß heute dafür nicht mehr fließen.