Jochem Hendricks

Jochem Hendricks, 1992
Jean-Christophe Ammann

Text für den Katalog „33“, Museum für Moderne Kunst Frankfurt, 1992 / Jean-Christophe Ammann war bis 2001 Direktor des Museums für Moderne Kunst Frankfurt

„Die Welt, in der man lebt, wird (…) von einer fast unbegrenzten Anzahl von Zeichen segmentiert, die nicht nur Dinge und Eigenschaften und Tätigkeiten hier und jetzt bezeichnen, sondern auch wirkliche und eingebildete Gegenstände aus Vergangenheit und Zukunft. Wenn ich meine Welt katalogisieren wollte, könnte ich mit einer freien Assoziation anfangen, die monatelang weitergehen könnte: Schreibtisch, Stift, Schreiben, Jucken, Saussure, Belgier, Minderheit, Krieg, Weltuntergang, Superman, Birmingham, Fliegen, General Grant, Olympische Spiele 1984, Lilliput, Mozart, Don Juan, The Grateful Dead, Lavieren, sag bloß, so wär´s nicht, Träumen …“ (Walker Percy, Loch im Kosmos – Das letzte Hilf-dir-selbst-Buch, Basel 1991, New York 1983, S. 113.)

Als Jochem Hendricks 1985 die 33 Logos und Symbole rasiermesserscharf mit dem Rapidographen zeichnete, war er 26 Jahre alt. Es sind nicht beliebige Bildzeichen. Sie sind so ausgesucht, daß sie, wie der Künstler sagt, aus seiner Sicht „die Welt abdecken“. Gleichzeitig liegt ihnen eine Typologie zugrunde, die im Durchmesser von 7,2 cm Kreuz – Stern – Viereck – und Kreis umfaßt.

Wenn es so ist, daß diese 33 Logos und Bildzeichen die Welt abdecken, stellt sich gleich die Frage, wo befinde ich mich, oder in welchen verschiedenen Logos bin ich gleichzeitig zu Hause. Diese Frage beantwortet Jochem Hendricks mit einem fiktiven Kartenspiel, das er aus den 33 Logos entworfen hat. Ob es gute oder schlechte Karten sind, die einem zugeteilt werden, die man auslegt oder die man ins Spiel wirft, Verlierer und Gewinner ist man gleichermaßen.
Zum einen ist diese Sicht eines jungen Künstlers bedrückend, zum anderen pragmatisch. Bedrückend, weil das Entweder – Oder in dem Maße relativiert wird, als die Zugehörigkeit zu verschiedenen Logos die Persönlichkeit des Individuums dissoziiert. Denn jedes dieser Logos beschreibt eine eigene, immanente Gesetzlichkeit, die immer dann virulent wird, wenn sie die Selbstzensur aktiviert. Nicht oder weniger die Überschreitung der diese Gesetzlichkeit bestimmenden Grenzen ist relevant, sondern der Grad an Verinnerlichung dieser Gesetzlichkeiten. Pragmatisch, weil die Akzeptanz der Zugehörigkeit zu einem oder diesem verwandten Logo einen Rahmen schafft, der auch die Werte festsetzt, innerhalb derer sich die Spielräume, je nach persönlicher Sicht, nur graduell unterscheiden.

Nun ist es so, daß diese Bildzeichen und Logos ganz verschiedene Aktualitätsinstanzen verkörpern. Es gibt solche, die mehrdeutig, solche, die obsolet geworden sind und solche, die in verschiedenen Kombinationen verschiedene Bedeutungen transportieren. Einige der Bildzeichen funktionieren als Hinweis („Männer“, „striktes Halteverbot“, „Strahlung“) oder als abstraktes Symbol (Venuszeichen). Innerhalb des Gesamtkontextes können diese Bildzeichen aber auch extensiv interpretiert werden: als Welt der Männer, der Frauen, der Kernenergie, als ein Kodex, der besagt, daß nur was keinem Verbot unterliegt, erlaubt ist. Schließlich ist der siebenzackige Stern mit dem Zeichen „Unendlich“ eine Eigenschöpfung des Künstlers.

Die 33 Logos provozieren eine richtige, eine falsche und eine belanglose Frage. Die Frage, die lautet: „Sage mir, wo Du hingehörst, und ich sage Dir, wer Du bist“, wird aufgehoben im Kartenspiel. Das Kartenspiel hat so etwas wie eine Schlüsselfunktion. Es suggeriert ein Interferieren, Kontaminieren und Fluktuieren von Mächten, Ideologien und Interessen. Die Karten werden neu gemischt, neu verteilt, die Welt ist in Bewegung, könnte es heißen. Aber der Schein trügt. Das Auslegen der Karten im Sinne dessen, was sich aus der Sicht eines jeden verträgt, erinnert an Gabi Delgados „Ein bißchen Krieg, ein bißchen Frieden“, jenes Lied der DAF (Deutsch-Amerikanische Freundschaft), das zu Beginn der 80er Jahre ganz oben in der Hitparade stand. Die „Weltkarte“ von Jochem Hendricks lädt zu keinem Abenteuer ein, Reiselust kommt nicht auf. Wer nicht weiß, wo er hingehört, fällt zwischen Stuhl und Bank.

„An einem düsteren Nachmittag im März“, schreibt Reinhard Lettau, „sahen wir in Erfurt an der Ausfahrtstraße nach Gotha, eine Kolonne amerikanischer Personenwagen, olivgrün angestrichen und mit großen, fremden Nummernschildern in Richtung von Hochheim vorbeifahren. Die Insassen hinter den beschlagenen Fenstern lächelten beim Fahren nach draußen und winkten, obwohl dort niemand zu sehen war.“ (Zur Frage der Himmelsrichtungen, München 1988, S. 72.)

Anzumerken wäre, daß das Interesse von Jochem Hendricks grundsätzlich im Wahrnehmungsbereich liegt, wobei ihn die Ironie der Rückkoppelung mehr interessiert als das Wahrgenommene selbst. Die Physiologie des Wahrnehmungsaktes wird bis an die Schmerzgrenze strapaziert, wenn er beispielsweise mit modernsten technischen Hilfsmitteln Zeich-nungen allein mit der Bewegung der Augen ausführt (1991/92). 1989 hat er die genetische Struktur der DNS in monumentalen Schlaufen mittels barocker Engel realisiert, damit der Popularisierung dieser Erkenntnis eine Verniedlichungsform verliehen, die unerbittlich die Oberfläche anvisiert, uns den Graben zwischen Information und Wissen als schier abgrundtief vor Augen führt.
1991/92 baut er mit Ping-Pong-Bällen präzise Makromodelle von Virenstrukturen wie Krebs, Grippe, Alfalfa, AIDS, Gelbfieber, Polio, Herpes. Die Ping-Pong-Bälle verweisen unter anderem auch auf den in der Medizin verwendeten Ausdruck „Ping-Pong-Effekt“, bezogen auf die Verbreitung der Viren (von Mensch zu Mensch). Die kaltmatte Ästhetik der von der Decke hängenden Modelle steht im virulenten Widerspruch zur „Bösartigkeit“ der Viren, und die Präzision in der Konstruktion entspricht gewissermaßen deren Trefferquote. Man wird an einen Astrophysiker erinnert, der einem in nüchternen, oft alltäglichen Begriffen das Universum zum Greifen nahe bringt, in dem in Wirklichkeit die „Hölle los ist“.

Die kühle Intelligenz von Jochem Hendricks dreht uns das Wort im Mund herum, macht uns unserer Sprachlosigkeit bewußt, angesichts von Veränderungen, die im wesentlichen in der Welt der Mikroprozessoren stattfinden.