Jochem Hendricks

Jochem Hendricks—Konzeptkunst, Alchimie und Buchhaltung: drei Beispiele – und noch eins, 2001
John S. Weber

Text für den Katalog „Legal Crimes“, Kunstverein Freiburg, 2002 / John S. Weber war bis 2004 Kurator am San Francisco Museum of Modern Art

Beispiel eins: Kurz vor Jahresende ließ Jochem Hendricks seine Einkommensteuer für das Jahr 2000 berechnen. Für die Summe, die er dem Staat schuldete, kaufte Hendricks Gold, um daraus ein Kunstwerk herzustellen. Dieses Werk, das aus unverändertem Barrengold besteht, wandelte die Steuerschuld des Künstlers in eine bestimmte Menge von „Arbeitsmaterial“ um, das er als Teil der Betriebsausgaben absetzen konnte. So senkte er sein zu versteuerndes Einkommen bis auf die Höhe, ab der keine Steuer mehr darauf zu entrichten war. Das entstandene Werk Tax (Steuer) blieb im Besitz des Künstlers.

Wie viele seiner Arbeiten aus den vergangenen Jahren ist Tax ein äußerlich schlichtes Werk, dessen komplexe taktische Bewegungen getarnt sind. Oberflächlich betrachtet hat der Künstler lediglich eine elementare wirtschaftliche Transaktion zwischen einem Individuum und dem Staat manipuliert, um seine Steuern zu reduzieren und dabei ein Readymade geschaffen. Seit Duchamp kann Kunst praktisch jede Form annehmen – warum also nicht auch Kunst als Steuerbefreiung? So gesehen hat es den Anschein, daß es sich bei Tax um eine clevere Kreuzung von sorgfältiger Buchhalterei mit post-konzeptueller Kunst handelte. Doch führt uns eine genauere Untersuchung zu einer Reihe von heikleren und entschieden faszinierenderen Fragen.

Zuallererst drängt sich die Frage auf, ob die ganze alchimistische Operation, Schulden in Gold umzuwandeln, überhaupt legal ist. Falls ja, hat das weitreichende wirtschaftliche Implikationen –¬ warum ist vorher noch niemand auf die Idee gekommen? Eigentümlich trickreich gab Hendricks seiner Arbeit den Titel Tax; doch verliert das dem Staat geschuldete Geld seine Funktion als Steuer tatsächlich in dem Moment, in dem er Gold davon kauft. Steuerschulden werden auf magische Weise in Betriebsausgaben verwandelt, die der Künstler steuerlich als Verlust anrechnen kann. Sollte die Arbeit verkauft werden, kann der Gewinn einfach als weiteres „Kunst-Gold“ rezykliert werden, so daß die sich selbst erneuernde Steuerbefreiung dauerhaft zu funktionieren scheint. So gesehen wäre der Titel Steuerhinterziehung vielleicht eher zutreffend.

Wie lange ein solches System einer behördlichen Kontrolle standhalten wird, ist eine der eigentlichen und merkwürdigen Fragen, die Tax aufwirft. Denn falls der Staat das Werk tatsächlich als Kunst anerkennt, könnte Hendricks‘ Steuerbefreiung für immer Bestand haben. Um das System zu knacken, müßten die deutschen Finanzbehörden der Arbeit wohl ihren Kunststatus absprechen und damit Stellung in der ästhetischen und philosophischen Debatte beziehen, was demokratische Regierungen zu vermeiden tendieren, solange sie ihre Bürger nicht gerade vor Inhalten schützen, die in sexueller oder religiöser Hinsicht als fragwürdig gelten. Die Tatsache, daß das anstößige Objekt aus dem edlen Material Gold mit seiner lange zurückreichenden Verbindung zu Kunst und Kunsthandwerk besteht, scheint die Angelegenheit weiter zu komplizieren.

Betrachtet man Tax als Kunstwerk unabhängig von seinen wirtschaftlichen und gesetzlichen Verstrickungen, scheint es auf den ersten Blick geradewegs ins Feld der Konzeptkunst nach Duchamp zu fallen, die auf der Nutzung gefundener Objekte gründet. Doch im Gegensatz zu Duchamps Fountain oder anderen Readymades ist Tax aus einem schon an sich wertvollen und schönen Stoff hergestellt. Und während Duchamp, um ein im Laden gekauftes Pissoirbecken in ein Kunstwerk zu verwandeln, „eine neue Idee erfand“, gibt Hendricks den Goldbarren in Tax einen neuen Wert (und tut es zugleich nicht). Denn entscheidend ist, daß das Gold seine ursprüngliche Funktion als Träger monetären Werts behält, und zwar unabhängig von jeglichem „Kunstwert“, den Hendricks ihm verliehen haben mag.

Aus dieser Gleichung ergibt sich ein kniffliges Rätsel, in dem sich Probleme des Steuerrechts sowie der Ökonomie und der Begriff des Tauschwerts in bezug auf Kunst und ihren Markt mit Fragen der ästhetischen Theorie vermischen und verheddern. Tax löst keines der Probleme, die die Arbeit aufwirft, doch umreißt sie sie in aller Schärfe und auf verführerische Art und Weise. Sie bewegt sich an der heiklen und gefährlichen Grenzlinie zwischen konzeptuell anspruchsvollem Kunstschaffen und der insgeheim vorhandenen Möglichkeit, daß es sich letzten Endes doch nur um den brillanten Schwindel eines schalkhaften Künstlers und eines unerschrockenen Steuerberaters handelt.

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Beispiel zwei: Für eine Ausstellung im Frankurter Museum für Angewandte Kunst im Jahr 1999-2000 zählte Hendricks mit einigen Helfern mehrere Wochen lang eine vorgegebene Anzahl von Sandkörnern ab. Die 3.281.579 Sandkörner wurden dann als Häufchen auf einem schlichten Glasteller in einer Vitrine ausgestellt.

In 3.281.579 Sandkörner unterbreitet uns Hendricks ein zunächst überraschendes Verständnis eines kleinen Sandhaufens, das wohl auf Wahrheit beruhen mag, aber trotz seiner Akkuratesse wenig nützlich ist. Woher sollen wir schließlich wissen, ob hier tatsächlich drei Millionen zweihunderteinundachtzigtausendfünfhundertneunundsiebzig Sandkörner versammelt sind? Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sind sie es nicht. Spielt es eine Rolle, wenn einige fehlen? Wäre die Arbeit genauso gelungen, wenn es tatsächlich nur drei Millionen zweihunderteinundachtzigtausendfünfhundertachtundsiebzig Körner wären? Und was steht auf dem Spiel, wenn es nicht darauf ankommt, wie viele Körner genau auf dem Teller liegen? Geht es in der Arbeit um Vertrauen, um den Grad der Genauigkeit von Information, um die zwanghafte Handlung, eine bedeutungslos hohe Anzahl von winzigen Teilchen einer Materie zu zählen? Oder ist das im Grunde ein Theaterstück, in dem das Sandhäufchen die genannte Zahl „aufführt“, aber nicht unbedingt zu Ende gekommen ist, wenn der Vorhang fällt?

Die Antwort lautet sowohl als auch, und noch mehr. Wie Tax ist 3.281.579 Sandkörner eine Posse, jedoch eine ernste. Einer Kultur, die von Information – so nutzlos diese auch sein mag –, von Statistik und deren Akkuratesse besessen ist, unterbreitet die Arbeit ein konkretes Angebot, über große und häufig sperrige Zahlen nachzudenken, und auch darüber, wann und wie diese einen Sinn ergeben. Zugleich handelt 3.281.579 Sandkörner von der menschlichen Arbeit, die aufgewandt wurde, um eine derart große Menge einer derart kleinteiligen Substanz zu zählen. Das erlaubt die Frage, ob diese Tätigkeit – wie gut sie auch durchgeführt worden sein mag – einen wirklichen Sinn hat oder ob sie so unnütz ist wie Sand auf den Strand zu schaufeln.

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Beispiel drei: In den Jahren 1997/98 nahm Hendricks die Einrichtung aus einem kleinen Zimmer, das alles enthielt, was man als Existenzminimum benötigen würde: eine einfache Matratze mit Bettzeug, eine Lampe, einen Kleiderschrank, ein Bücherregal mit Büchern, einen Aschenbecher, eine Kaffeemaschine, Tassen und so weiter. Diese Gegenstände wurden zerhäckselt und zermahlen, dann in einen großen durchsichtigen Plastiksack gefüllt und als Zimmer im Sack betitelt.

Wie bei den 3.281.579 Sandkörnern haben die Betrachter des Zimmers im Sack keine Möglichkeit, die zentrale Tatsachenbehauptung des Werks zu überprüfen. Man muß glauben, daß unter anderem eine Matratze zerhäckselt wurde. An der Oberfläche scheint die Bedeutung des Zimmers im Sack strukturell der Frage zu entsprechen, wie viele Sandkörner auf dem Glasteller liegen: Beide Arbeiten präsentieren eine so zwanghafte wie eigenartige Form von Buchhaltung, und bei beiden gibt es keine Möglichkeit, die Richtigkeit der Rechnung zu prüfen. Zugleich ist beiden eine theatralische Qualität zu eigen, denn der Akt des Präsentierens und Ausstellens spielt eine offensichtliche Rolle. Bei der einen Arbeit wird ein Häufchen Sand gezeigt, das wir als 3.281.579 Einzelteile betrachten sollen, bei der anderen ein großer Sack voll zerkleinerten Materials, das den Inhalt eines Zimmers verkörpern soll. Und in beiden Arbeiten entfaltet sich der wohltuend trockene, analytische Witz des Künstlers.

Trotz der auffälligen Ähnlichkeiten beider Arbeiten funktionieren sie psychologisch doch recht unterschiedlich. In beiden wird untersucht, was es heißt, etwas zu wissen und es zu sehen, doch hat das Zimmer im Sack eine klare, existentiell menschliche Dimension, die der in 3.281.579 Sandkörner vorgeführten, bewußt neurotischen Anmaßung von Akkuratesse nahezu völlig abgeht – und zwar den Hinweis, daß es sich beim offensichtlichen Gegenstand des Zimmers im Sack um den Inhalt eines Raumes handelt, der als menschliche Behausung auf dem Niveau des Existenzminimums dienen könnte. Viel ist da nicht, in zerkleinerter Form und auf höchst platzsparende Weise komprimiert. Betrachtet man den Sack, bleibt uns die blanke Erkenntnis, daß sich die materiellen Umstände eines Lebens zu nichts als einem Beutel voller Schrott addieren könnten. Diese Arbeit mit dem Küchenmixer hat etwas Schockierendes und Unheimliches mit ihren Anklängen an Besitz- und Obdachlosigkeit. Wir können darin die Behauptung sehen, daß wenig im Leben wirklich unentbehrlich ist oder den Hinweis darauf, daß materieller Besitz letztendlich nichts als Eitelkeit, eine fixe Idee und zukünftiger Abfall ist. Semiotisch funktioniert Zimmer im Sack so oder so als Memento mori – eine Erinnerung an die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit des Lebens auf seiner elementaren materiellen Ebene.

Arbeiten wie Tax, Zimmer im Sack und 3.281.579 Sandkörner bilden die eine Seite der konzeptuellen Untersuchungen, die Hendricks durchführt; ergänzt werden sie durch seine umfangreiche Serie von „Augenzeichnungen“. Für diese Arbeiten benutzt Hendricks einen „Eye Tracker“, um die Bewegungen seiner Augen aufzuzeichnen, die mittels Computer in grafische Daten umgewandelt und ausgedruckt werden. Der Akt des Sehens wird dadurch sorgfältig kartiert, jedoch sowohl vom gesehenen Objekt als auch vom damit verbundenen Prozeß des Erkennens, auf den sich Hendricks in seinen übrigen Arbeiten bewußt bezieht, radikal abgetrennt. Diese Trennung von Sehen, Gesehenem und resultierendem Denken zeigt sich auf drastische Weise in einer Arbeit wie EYE (Auge). Hendricks benutzte dafür jenes Gerät, das die winzigen Bewegungen seiner Augen aufzeichnete, während er einen Teil einer amerikanischen Tageszeitung las (um präzise zu sein: die komplette Wochenendbeilage der San Jose Mercury News, die unter eben diesem Titel EYE erscheint).

Die so entstandene 52seitige Augenzeichnung ist eine wahnsinnig komplexe, dichte Folge von Strichen auf Zeitungspapier, hergestellt in der zeitungseigenen Druckerei. Wie Hendricks bemerkt, ist EYE eine im Material völlig mit der Vorlage identische, mit der gleichen Farbe auf dem gleichen Papier gedruckte Zeitung, die dieselbe Information verzeichnet, nur daß sie „schon einmal gelesen“ wurde. Der mit einem Plotter verbundene Eye Tracker wandelt Texte und Bilder in ein grafisches Abfallprodukt psychologischer und kognitiver Prozesse um. Noch einmal überschneiden sich Sehen, Denken und Sprache, doch am spannendsten ist die Unsichtbarkeit und Abwesenheit des Erkennens. Was waren das für Texte, welche Ideen haben sie festgehalten und was passierte im Kopf des Lesers? Trotz des Überflusses an visueller Information ist die hervorstechende Qualität von EYE ein irres, wohlkalkuliertes Schweigen, die Sprachverweigerung.

Auf unterschiedliche Weise offenbart jede dieser Arbeiten Hendricks‘ zentrales Anliegen, die Beziehung zwischen Sprache und Sehen in bezug auf Wahrnehmung. Insbesondere entfaltet sich darin auch sein Interesse am Vermögen der Spache, Dinge zu benennen; die Titel seiner Arbeiten prägen die Erwartungen der Betrachter und beeinfussen so ihre Wahrnehmung. Die Goldbarren haben ein Echo, gerade weil wir sie als Materialisierung der Steuern betrachten – die zu entrichten der Künstler sich dreist weigert. Das Gerümpel im Sack ist dann (und nur dann) ergreifend, wenn es wirklich das „Zimmer“ ausmacht, das Hendricks in Stücke gehauen hat – andernfalls ist es nichts als Müll. Das Sandhäufchen ist nur in Beziehung zur gewöhnungsbedürftigen Unermeßlichkeit und Genauigkeit der Zahl 3.281.579 faszinierend – eine Summe, die höchstwahrscheinlich nicht korrekt ist und umso unerträglicher wäre, wenn sie es doch wäre. In jedem Fall gibt es eine wunderliche, beabsichtigte Diskrepanz zwischen dem, wovon Hendricks uns sagt, daß es zu sehen ist und dem, was er uns zeigt. Der zackige Weg der Augen in EYE, der eine Reihe von Texten so kartiert, daß ihre Abwesenheit hervorgehoben wird, veranschaulicht diese Verschiebung nahezu buchstäblich. Der Philosoph Merleau-Ponty verglich Sprache einmal mit einem Fußabdruck – einer von Gedanken hinterlassenen Spur, die die Sprache festzuhalten versucht. Im Falle von EYE bleibt nur der Verlauf der Fußabdrücke, ohne die geringste Möglichkeit, deren Länge, Breite und Tiefe zu beurteilen.

Insgesamt ist die Kunst von Jochem Hendricks weniger mit dem befaßt, was wir sehen als mit dem, was wir beim Sehen denken. Es ist Konzeptkunst in einer Zeit, in der das Kunstwerk wieder materialisiert wird. Das Werk ist hier jedoch weder Stilübung noch eine Gelegenheit, handwerkliche Fertigkeiten zu demonstrieren, vielmehr entwickelt Hendricks jedes seiner konzeptuellen Projekte sui generis in bezug auf die philosophischen, ästhetischen und sozialen Fragen, die ihn beschäftigen. Seine Arbeiten wirken weitgehend aus sich selbst heraus und spüren kaum nach jenem diskursiven Bezug auf die Tradition wie etwa die moderne Malerei, in der die Bedeutung jeder individuellen Leistung durch den Bezug auf die gesamte Geschichte des Mediums untermauert wird. Im Gegenteil kommen uns Hendricks‘ Arbeiten zuweilen eher wie eigene Erfindungen oder Experimente denn wie Kunstwerke vor – doch unabhängig, wie wir sie nennen, treiben sie Sehen, Wahrnehmen und Erkennen in eine aufschlußreiche und lohnende Kollision. Ob die Goldbarren in Tax, das Sandhäufchen auf dem Teller, der zerkleinerte Plunder in Zimmer im Sack oder die mäandrierernden irren Striche durch die Weiten des billigen Zeitungspapiers – es handelt sich immer um sorgfältig entworfene Überschneidungen, an denen das Was einer künstlerischen Konstruktion und Präsentation auf das Wie unseres Wissens und Erkennens trifft.

Es lohnt zum Schluß die Bemerkung, daß Jochem Hendricks tatsächlich Künstler ist und kein Wissenschaftler, Erfinder oder Philosoph. Doch fällt sein Künstlersein eindeutig in diese Zeit, in der Kunst unabhängig von all ihren anderen Belangen von einer Idee getrieben wird. Seine Arbeit zu betrachten heißt, die Lücke zwischen den sichtbar dargelegten äußeren Umständen und den konzeptuell implizierten Situationen zu erkennen, zwischen dem, was wir mit unseren Augen sehen und dem, was wir nur mit unserem Verstand abwägen können.