Jochem Hendricks

Von der Sehnsucht nach Sicherheiten und anderen Wünschen, 2002
Dorothea Strauss

Vorwort zum Katalog „Legal Crimes“, Kunstverein Freiburg, 2002 / Dorothea Strauss war bis 2005 Leiterin des Kunstvereins Freiburg

Dass gewisse Sicherheiten im Leben wie zum Beispiel ein geregeltes Einkommen, eine intakte Beziehung oder eine schöne Wohnung letztendlich am seidenen Faden hängen, realisiert man spätestens in dem Moment, in dem etwas davon in Schieflage gerät. Und ohne gleich von Krieg und Terror zu sprechen, genügt es hier erst einmal, sich mit dem ganz normalen Wahnsinn zu beschäftigen, nämlich mit unserem Alltag.

Wenn die Frau oder der Mann einen verlassen, wenn man den Job verliert, wenn das Konto gesperrt und die Wohnung gekündigt wird, wenn also dieses ganze sogenannte geregelte Leben nicht mehr funktioniert, spätestens dann wird einem deutlich, dass viele Lebensentwürfe nur geliehen sind. Sie sind geliehen aus einem kollektiven Reservoir möglicher sowohl strukturell wie auch ästhetisch bedingter Normen und Klischeevorstellungen, die solange gut funktionieren, solange alles nach Plan läuft.

Die Beschäftigung mit Lebensmodellen, mit Persönlichkeitsstrukturen und Biografien ist gerade in den vergangenen Jahren ein wichtiges Thema in der zeitgenössischen Kunst nicht zuletzt auch deshalb geworden, weil sich dort die Vielschichtigkeit, die Zersplitterung und Heterogenität unserer aktuellen Gesellschaftsbedingungen ganz deutlich zeigen. Das Nach- und Aufspüren biografischer Zusammenhänge schafft für KünstlerInnen häufig eine Ausgangssituation, die genügend Raum für persönliche Statements bietet, d.h. bewusst auf eine subjektive Kraft setzt, und dennoch in der Lage ist, verhandelbare Faktoren deutlich zu formulieren. Der Wandel und die stetige Umformulierung gesellschaftsbedingter Vorstellungen, wie und nach welchen Parametern ein Leben funktioniert oder zu funktionieren hat, können eine wichtige Ausgangsbasis sein, um durch eine künstlerische Auseinandersetzung Alternativ-Welten zu entwickeln, Tabuzonen zu befragen oder auch Wünsche und Träume von Glück und Freiheit kritisch oder affirmativ zu beleuchten.

Jochem Hendricks beschäftigt sich mit unterschiedlichen Lebensentwürfen und gesellschaftlichen Umgangsformen. Kritisch, oft humorvoll und nicht selten ironisch kommentiert er dabei Sehnsüchte, Gefühle und Ängste, und zieht diese Kommentare jedoch nie auf eine klebrige oder larmoyante Ebene. Ganz im Gegenteil bedient er sich häufig eher einer nüchternen und konzeptionell erscheinenden Ästhetik, mit der er ganz bewusst auf die Fantasien, Erinnerungen und Vorstellungen der BetrachterInnen setzt. So kreisen seine Themen seit vielen Jahren in einem inhaltlich komplexen Terrain unterschiedlicher Bedingungen zwischen Wissen, Vermutung und Sehnsucht nach Erklärung bzw. Komplettierung, und lenken dabei die Aufmerksamkeit immer wieder auf das Motiv des Scheiterns solcher Wünsche und Forderungen.

Ausgehend von einer klaren Konzeption entwirft Jochem Hendricks mit unterschiedlichen Medien Spannungsverhältnisse zwischen konstruierten und dekonstruierten Zusammenhängen, in denen die Momente der Unsicherheit und Verweigerung von gewissen ästhetischen Normen als eine werkkonstituierende Bedingung auftauchen: Für die Arbeit „Zimmer im Sack“ jagte er zum Beispiel die vollständige Möblierung eines Zimmers (samt kleiner Bibliothek) durch einen Schredder und füllte das Material danach in einen großen Klarsichtsack. Seine vorgenommene Auswahl der Möbel basierte dabei auf dem Versuch, ein Norm-Zimmer für eine Person zusammenzustellen, sozusagen den Prototyp für eine bestimmte Lebensform zu schaffen. Das Nachdenken über die Verletzbarkeit von einem solchen Ort ist in dieser Arbeit genauso Thema, wie Kleinbürgerlichkeit als Tatort, ein metaphorischer Befreiungsakt normativer Zwänge oder aber auch die humorvolle Auseinandersetzung mit der Geschichte der Plastik.

Seit 1995 entsteht die Werkgruppe „Beutekunst“. Es handelt sich dabei um Gegenstände im Wert zwischen einem und zweihundert Euro, die Jochem Hendricks meistens in Kaufhäusern oder ähnlichen Geschäften stiehlt. Diese Werkgruppe, die sich bislang unter Ausschluss einer Öffentlichkeit an einem riskanten Grad zur Illegalität entwickelte, kulminiert nun in einer überdeutlichen und spektakulären Geste: Jochem Hendricks realisiert anlässlich seiner Einzelausstellung im Kunstverein Freiburg die Arbeit „Miniturm Maxisockel“, einen dreistöckigen, siebeneinhalb Meter hohen und begehbaren Turm, der ausschließlich aus gestohlenen Materialien besteht und in dem zum ersten Mal Hendricks‘ Beute der letzten Jahre gezeigt wird. Die verschiedenen Fragen danach, was alles in unserer Gesellschaft noch legitimiert werden kann und wie viel Spielraum dabei entstehen darf, ist das zentrale Thema dieser Arbeit. Die BetrachterInnen werden an ihre jeweiligen Erinnerungen herangeführt und mit dem konfrontiert, das nur sie wissen und kennen können, nämlich ihre eigenen Illegalitäten. Stehlen und Klauen als Test für das, was in unserer Gesellschaft alles möglich ist, als metaphorische Dimension für einen Befreiungsakt an sich: Den perfekten Bankraub zu planen interessierte Bonnie & Clyde nicht nur, um sich zu bereichern, sondern vor allem als Sinnbild dafür, sich selbst zu überwinden und dem Zwang der jeweiligen Lebensbedingungen zu entfliehen.

Doch auch in seiner neusten Arbeit geht es Hendricks nicht nur um eine sowohl gesellschaftliche wie persönlich-individuelle Dimension, sondern spielerisch greift er das kunsthistorische Thema der Sockel-Frage auf: Sockel, urspünglich Aktionsraum für die klassische Plastik und Skulptur, sind heute in Ausstellungen eher ein Fauxpas. Man verzichtet gerne auf sie und bedient sich anderer Präsentationsformen. Hendricks zeigt in seiner Ausstellung den „Miniturm Maxisockel“ als Denk- und Fantasieraum, als Präsentationsfläche im klassischen Sinn und setzt gleichzeitig einen aus den 1970er Jahren stammenden Begriff der „Plastik als Handlungsform“ in die Tat um. Und ganz nebenbei wird hier der Sockel von seinem piefigen Image rehabiliert.

„Legal Crimes“ ist eine Ausstellung, mit der Jochem Hendricks auf unterschiedliche Weise die inneren und äußeren Möglichkeiten unserer Fantasien auslotet. Die Momente, in denen das Spiel Ernst wird und das Mysterium in profane Realität umschlägt, sind in dieser Ausstellung genauso Thema wie unser derzeitiges Weg- und Aufbrechen politisch- und gesellschaftsbedingter Sicherheiten. Dabei verzichtet Jochem Hendricks ganz und gar auf eine hobbysoziologische Dimension, sondern läßt wie immer den BetrachterInnen viel Raum für ihre eigenen Standpunkte.

Mein herzlicher Dank gilt allen AutorInnen dieses Buches, die sich in ihren Texten und Gesprächen aus unterschiedlichen Perspektiven und auf humorvolle, kritische und weitreichende Weise der komplexen Arbeit von Jochem Hendricks genähert haben. Außerdem geht ein großes Dankeschön an Yvonne Pietz und Olaf Rahlwes für ihre hervorragende grafische Umsetzung, und an Dieter Weber vom modo Verlag für seine konstruktive Unterstützung.